2007-06-04

Altkanzler Helmut Schmidt im BILD-Interview

„Der G8-Gipfel ist nur noch ein Spektakel“

Von Kai Diekmann und Hans-Jörg Vehlewald


Regierte von 1974 bis 1982 als Bundeskanzler, erfand 1975 den Weltwirtschaftsgipfel: Helmut Schmidt (88, SPD)

BILD: Herr Bundeskanzler, G8-Gipfel in Heiligendamm, Deutschland ist Gastgeber. Wenn Sie – 70 Jahre jünger – als friedlicher Demonstrant am Zaun ständen: Was würden Sie den Führern der Welt zurufen?

Helmut Schmidt: Auch wenn ich 70 Jahre jünger wäre, würde ich nicht am Zaun stehen und demonstrieren. Vor 70 Jahren war ich 18 und gegen die Nazis. Aber, wenn ich gegen die demonstriert hätte, wäre ich sofort eingesperrt worden.

BILD: Was halten Sie von den „Anti-G8-Demos“?

Schmidt: Wenig. Kein 18-Jähriger sollte sich einbilden zu wissen, wie die Welt organisiert sein muss. Im Grundgesetz steht, dass ein Bundespräsident mindestens 40 Jahre alt sein muss. Das ist eine vernünftige Regelung. Nur in Ausnahmefällen ist jemand unter 40 Jahren in der Lage, ein vernünftiges politisches Urteil über die Weltwirtschaft abzugeben. Aber friedlich demonstrieren geht natürlich in Ordnung. Schon die Babys dürfen schreien ...

BILD: Sie haben den Weltwirtschaftsgipfel 1975 mit Frankreichs Präsident Giscard d’Estaing ins Leben gerufen. Eine Erfolgsstory?

Schmidt: Wir haben diesen Gipfel zu zweit sozusagen erfunden. Es war damals gar nicht einfach, die Amerikaner und Engländer zu überzeugen, dass das eine gute Idee wäre.

Zweck der Übung war ja nie, große Beschlüsse zu fassen. Dann hätten nämlich sämtliche 10 000 Außenamtsbürokraten von Tokio über Paris bis Washington ihren Senf dazugegeben, den Senf der jeweils anderen wieder rausgestrichen und endlos miteinander verhandelt.

Wir wollten stattdessen die wichtigsten Regierungschefs des Westens zusammenbringen, damit sie sich gegenseitig erleben, einander Fragen stellen und beantworten, in engstem Kreis. Wir haben damit immerhin eine sich anbahnende Welt-Inflation vermeiden können.

BILD: Und das ist heute nicht mehr so?

Schmidt: Heutzutage ist das Ganze nur noch ein großes Medienspektakel! Ich habe gehört, dass allein die Amerikaner mit 1000 Figuren anreisen. Da werden sich die Russen und die chinesischen Medien nicht lumpen lassen. Alles dummes Zeug! Da kann persönlich nicht mehr viel rauskommen – wofür Frau Merkel als Gastgeberin aber wirklich nichts kann.

BILD: Wenn Sie den G8-Staaten die drei wichtigsten Probleme der Menschheit auf die Agenda schreiben sollten. Welche Punkte wären das?

Schmidt: Ein Punkt stände ganz oben: Wieso trefft ihr euch zu acht? Wo sind die Chinesen? Wo die Inder, die großen Öl-Exporteure, die Entwicklungsländer? Ihr müsst begreifen, dass man die Weltwirtschaft nicht mehr vom Westen aus steuern kann, ohne China, ohne Indien. Das ist vorbei! Und man kann sie auch nicht steuern ohne diejenigen, die die Öl- und die Gaspreise machen.

BILD: Wie lässt sich die Weltwirtschaft steuern?

Schmidt: Die größten Gefahren für die Weltwirtschaft sind gegenwärtig nicht Inflation, nicht der explodierende Öl- oder Gaspreis. Gegenwärtig findet sich die ganze Weltwirtschaft in einem nie zuvor gekannten Boom. Dieser Boom reicht über alle Kontinente, er hat die ganze Welt erreicht. Das hat es noch nie gegeben. Dieser weltweite Aufschwung wird vielleicht noch ein, zwei Jahre halten, mit Glück auch drei Jahre.


Langfristig jedoch liegt eine ernste Gefahr in der absoluten Ungleichgewichtigkeit der drei wichtigsten Währungen der Welt: beim Dollar, beim Euro und der chinesischen Währung.

Die Chinesen erzielen jedes Jahr Hunderte von Milliarden Überschüsse, die Amerikaner machen Hunderte von Milliarden Defizite, die Japaner erzielen Hunderte von Milliarden Überschüsse. Das ist eine völlig ungesunde Schieflage, die wir beheben müssen.

Wie gesagt, das kann noch ein paar Jahre gut gehen mit dem Boom, aber langfristig ist dies eine ganz große Gefahr für die Weltwirtschaft.

BILD: Erstmals steht der Klimaschutz ganz oben auf der G8-Agenda. Ist die Situation so dramatisch, wie der Weltklima-Rat behauptet?

Schmidt: Dieser Weltklima-Rat hat sich selbst erfunden, den hat niemand eingesetzt. Die Bezeichnung Weltklima-Rat ist eine schwere Übertreibung. Diese ganze Debatte ist hysterisch, überhitzt, auch und vor allem durch die Medien. Klimatischen Wechsel hat es auf dieser Erde gegeben, seit es sie gibt.

Seit Hunderttausenden von Jahren haben wir Warmzeiten und Eiszeiten.

Zum Beispiel finden sie in Deutschland bis heute Stoßzähne von Mammutelefanten als Beweis dafür, dass es einmal eine Warmzeit gegeben hat, in der Elefanten in Deutschland leben konnten. Oder ich finde in Hamburg-Langenhorn in meinem Garten Gehäuse von Meeresmuscheln – 15 Meter über dem Meeresspiegel. Ein Zeichen dafür, dass in einer früheren Warmzeit der atlantische Ozean bis nach Langenhorn und noch weiter gereicht hat.

Die Gründe für diesen vielfältigen Klimawechsel sind einstweilen nicht ausreichend erforscht. Und es gibt überhaupt keinen Grund anzunehmen, dass es nicht so weitergeht. Aber sich darüber aufzuregen und zu meinen, diesen Wechsel könnte der Mensch durch gemeinsamen Beschluss in Heiligendamm aufhalten, das ist reine Hysterie, das ist dummes Zeug.

BILD: Ist ein wirksamer Klimaschutz ohne die weitere Nutzung der Atomkraft denkbar?

Schmidt: Kurzfristig ist die Antwort: nein, ohne Kernkraftwerk geht es nicht. Aber: Wie das heute in 30 Jahren aussehen wird, kann ich nicht beurteilen.

Der technische Fortschritt hat sich ja gewaltig beschleunigt, wird sich weiterhin beschleunigen. Vom ersten Flugzeug, das geflogen ist bis zu den ersten Bomben, mit dem man vom Flugzeug aus ganze Städte ausradiert hat – dazwischen lagen keine 50 Jahre.

Entscheidend für die Frage der Energieknappheit wird die rapide steigende Zahl von Menschen auf unserem Planeten. Als mein Vater zur Schule ging, hier, in Hamburg-Barmbek, da hatten wir 1,6 Milliarden Menschen auf der Welt. Heute sind es über 6,6 Milliarden. Und in der Mitte des 21. Jahrhunderts werden es neun Milliarden sein. Und die wollen alle Brot backen, die wollen alle Essen kochen, die wollen Auto fahren und heizen, wenn es Winter ist.


BILD: Bietet das G8-Treffen eine Chance, ein wenig Sommer in das derzeit frostige Verhältnis zu Russland zu bringen?

Schmidt: Sie malen da das Bild vom „ganzen Westen“ auf der einen Seite und Putin auf der anderen Seite. Das sehe ich anders: Es gibt Teile des Westens, vor allem die USA, die immer noch nicht verstanden haben, dass die Welt von heute nicht dieselbe Welt ist, die Ronald Reagan, Mao Zedong oder George Bush senior gekannt haben.

Seitdem hat sich viel geändert: Seit Gorbatschow 1985 ans Ruder kam, hat die russische Armee keine Grenze mehr überschritten. Die Russen haben keinen aggressiven Akt begangen. Sie haben sich die Loslösung der Ukraine und Weißrusslands aus dem alten zaristischen Reich gefallen lassen. Ohne Bürgerkrieg. Eine erstaunliche Leistung.

Das ergibt für mich keinen Grund, vor den Russen von heute Angst zu haben. Man braucht mit denen anständige, normale Verhältnisse, das ist einer der wichtigsten Nachbarn für Deutschland, auch, wenn die Polen dazwischen leben. Die Russen spielen für die europäische Geschichte eine Riesenrolle seit mindestens 300, 400 Jahren, und das bleibt auch so. Da macht es für mich keinen Sinn, den Russen öffentlich vorzuhalten: Bei euch werden Journalisten eingebuchtet!

BILD: Auf wen muss sich die Welt nach Putin einstellen?

Schmidt: Meine Vermutung ist, dass Putin in den nächsten Jahren die beherrschende Figur der russischen Politik bleiben wird – vielleicht als Mann im Hintergrund.

BILD: Gastgeberin in Heiligendamm ist Kanzlerin Angela Merkel, bis Ende Juni Ratspräsidentin der EU und damit Vertreterin von 27 Staaten. Ist dieser riesige Laden überhaupt noch regierbar?

Schmidt: Der war nie regierbar. Aber es ist nicht die Schuld von Frau Merkel, dass wir, ohne die Spielregeln der EU zu ändern, von 12 auf 15 Mitgliedstaaten gegangen sind und heute auf 27 und demnächst auf 28. Das fällt in die Verantwortung einer ganzen Generation von Regierungschefs und Außenministern der letzten 15 Jahre.

Seit Maastricht 1992 ist nichts geschehen, immer noch gilt für alle wichtigen Entscheidungen die Regel der Einstimmigkeit, jeder der 27 hat ein Vetorecht. Das ist ein Skandal sondergleichen.

BILD: Was fürchten Sie?

Schmidt: Diese dramatische Entwicklung kann dazu führen, dass im Laufe der nächsten Jahrzehnte die Europäische Union wieder zerfällt.

Ich habe gerade bei einem Vortrag Zuhörern aus USA, Australien, China gesagt: Ihr müsst davon ausgehen, dass ihr auch in den nächsten Jahrzehnten nicht mit einem Europa, sondern mit 27 oder 28 europäischen Außenministern zu tun habt. Und mit einem Präsidenten in Brüssel, der alle paar Jahre wechselt. Das steht leider fest, auch, wenn die gegenwärtige Krise über den Verfassungsvertrag gelöst werden sollte.

BILD: Was ist die Lösung?

Schmidt: Das Problem ist der Zwang zur Einstimmigkeit in allen wichtigen Fragen.

Dabei ist es doch ein Kennzeichen der Demokratie, dass Mehrheiten entscheiden.

Aber in dem Augenblick, wo jeder Einzelne ein Vetorecht hat, wo die Mehrheit gar nicht mehr wichtig ist – da ist es keine Demokratie mehr, da ist es Chaos!

Quelle: http://www.bild.t-online.de/BTO/news/2007/06/04/schmidt-helmut/ex-bundeskanzler-interview.html

http://www.bild.t-online.de/BTO/news/2007/06/04/schmidt-helmut/ex-bundeskanzler-interview2.html

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